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storyboard | 2010 bis 2014 | Alle Bilder im Format 16:9




Annette Wirtz Storyboard _Mythos
Eine Serie von Gemälden von Annette Wirtz trägt den Begriff „Storyboard“ im Titel mit verschiedenen Zusätzen wie „Storyboard_Intro“ (2014), „Storyboard_er, versunken“ (2014) oder „Storyboard_Gigantin“ (2010). Der Begriff benennt eigentlich eine zeichnerische Visualisierung eines Films oder eines Konzepts. Auch mit dem Zyklus von Gemälden von Annette Wirtz wird eine Geschichte erzählt und auf ihre Aktualität geprüft. Es ist die aus der griechischen Mythologie stammende Erzählung von „Narziss und Echo“, die vom römischen Dichter Ovid (Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr. – 8. N. Chr.) in seinen Metamorphosen aufgegriffen wurde und seither vielen Künstlern als Anregung diente. So auch dem französischen Maler Nicolas Poussin (1593/94 – 1665), auf dessen gleichnamiges Werk sich Annette Wirtz explizit bezieht. Das Gemälde entstand ca. 1630 in Rom, wo sich Nicolas Poussin bevorzugt aufhielt, im Stil des sogenannten Klassizistischen Barock.
Mit Narzissmus wird heute noch Eigenliebe oder Selbstverliebtheit benannt, ein Begriff der auf die Figur des Narziss zurückgeht, der so schön gewesen sein soll, dass unzählige Frauen wie Männer, göttliche und menschliche Wesen sich in ihn verliebten und so hochmütig, dass er keine Liebe erwiderte. Erst als er sein Spiegelbild in der Wasseroberfläche einer Quelle erblickte, verliebte er sich unsterblich. Doch dieses Gegenüber war unerreichbar, da er es selbst war und so starb er vor Kummer. Es war die Strafe für seinen Hochmut und die Erfüllung einer entscheidenden Prophezeiung, die seiner Mutter Liriope, einer Nymphe, gemacht worden war. Der Seher Tiresias prophezeite, Narziss habe nur dann ein langes Leben: „Wenn er sich selbst nicht kennt“. (Ovid. Metamorphosen. In Prosa neu übersetzt von Gerhard Fink, Frankfurt a. M., 1992, S. 72)
Das Werk „Storyboard_ Intro“, 2014, zeigt diesen Moment der Betrachtung in der spiegelnden Wasseroberfläche. Das Bild mit einem Gesamtformat von 170 x 310 cm ist aus vier Einzelbildern zusammengesetzt, ähnlich einem Triptychon mit drei Bildteilen im Hochformat und einer Predella im Querformat wie bei Altären üblich. Allerdings ist die Predella nicht mittig unter den drei Bildteilen angebracht, sondern ergänzt zwei Bildteile so, dass sie mit dem dritten, längeren Bildteil eine geschlossene Form bilden. Bereits durch die Bruchlinien im Bild wird deutlich, dass die Einheit von Natur und Mensch verloren gegangen ist. Dies wird durch die Farbauswahl für die einzelnen Bildteile weitergeführt. So wirkt die Landschaft, die den mittleren und rechten Bildteil ausfüllt, aufgrund der satten grünen und gelben Farbtöne sommerlich heiter. Auf dem linken Bildflügel und der Predella kommen dunklere Grüntöne, teilweise mit Schwarz abgemischt, ins Spiel.
Auch motivisch wird der Ausblick in die Ferne im linken Bildteil durch eine steile Hügelkante versperrt. Davor kniet ein Jüngling, dessen tiefblaues Shirt die gleiche Farbe hat wie die Wasseroberfläche, in die er blickt. Die Haltung der Figur, sie kniet an der Quelle und stützt sich auf den linken Unterarm und die rechte Hand, um ins Wasser schauen zu können, während der geneigte Kopf ins Profil gedreht ist, erinnert bewusst an Caravaggios ca. 1597 bis 1599 entstandene Version des „Narziss“. Im Gegensatz zu dessen Bild, verweigert die Darstellung von Annette Wirtz jedoch die Spiegelung im Wasser. Stattdessen wird die auf der Predella dargestellte Wasseroberfläche, die von einer Vielzahl unterschiedlich grüner, fleckartiger Strukturen umgeben ist, zu einer eigenständigen Bildkomposition mit unruhiger, flirrender Oberfläche. Der entscheidende Moment, indem Narziss das eigene Spiegelbild entdeckt und damit sich selbst erkennt, bleibt in der Schwebe.
Die Fähigkeit sich selbst im Spiegelbild zu erkennen, die nur wenige Tierarten besitzen, erlangt der Mensch zwischen dem 6. bis 18. Lebensmonat. Der französische Psychoanalytiker Jaques Lacan (1901 – 1981) hat dies als Geburt des psychischen Ichs, als Selbstwerdung, bezeichnet. Diese bringt jedoch die Erkenntnis mit sich, an einen Körper gebunden zu sein, den man im Spiegel sieht, egal ob er dem eigenen Wesen gemäß empfunden wird oder nicht. Eine interessante Parallele zeigt sich zu der in der Bibel geschilderten Vertreibung aus dem Paradies, die ebenfalls auf der Erkenntnis des Selbst als körperliche Erscheinung beruht, „da wurde ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren…(Altes Testament, 1. Mose, 3. Kapitel, Vers 7). Verkürzt könnte man daher sagen, es ist die Selbsterkenntnis, die zum Tod von Narziss führt oder seine Menschwerdung.
Annette Wirtz setzt sich in einer ganzen Reihe von Ölgemälden, deren Formate in Anlehnung an filmisches Sehen durchgehend im Verhältnis 16:9 gewählt sind, mit dem Mythos von Narziss und Echo auseinander. Das Thema wird jedoch nicht auf den ersten Blick deutlich, da zeitgenössische Figuren zu sehen sind, die nicht zwingend als mythologische Wesen verstanden werden müssen. Trotz ihrer modernen Physiognomie und Kleidung wirken sie wie hineingegossen in die Landschaft. Ihr eingebettet sein in die Natur rückt sie in die Nähe von göttergleichen Figuren, die noch in einem Zustand von archaischer Nähe zur Natur verharren. Die Künstlerin verdünnt die Ölfarbe für ihre Gemälde zum Teil mit Mohnöl über Leinöl bis zu Terpentinbalsam, so dass sie dünnflüssig wird und Verlaufsspuren entstehen. Zum einen verstärkt dies den Eindruck des Verschmelzens der Figur mit dem Umfeld, weil sichtbare Konturlinien fehlen. Zum anderen erzeugt der verwischte Effekt den Eindruck von etwas Flüchtigem oder Traumhaften, einem nicht richtig fassbaren Geschehen.
Die Nymphe Echo, die unsterblich in Narziss verliebt ist, gehört ebenfalls zum Mythos. Sie kann nicht mit Narziss sprechen, weil sie zur Strafe für ihre Geschwätzigkeit nur die jeweils letzten Worte einer vorangegangenen Rede wiederholen kann. Damit wird sie zum akustischen Spiegel, der zurückwirft, was gesagt wurde. Als sie Narziss beerdigen will, fand sie statt seines Leichnams eine Narzisse. Sie selbst verschmolz im Tod mit einem Felsen und wurde zum Echo. Weiß man um diesen Zusammenhang, kann man die im „Storyboard_Intro“ dargestellte Steilwand bereits mit dieser Funktion einer Echo hervorbringenden Naturformation in Verbindung bringen. Offensichtlich ist dies aber nicht.
Die drei Werke „Storyboard_Sie, Storyboard_Er, Storyboard_beide, verschwindend“, alle 2011, zeigen die beiden Protagonisten des Mythos in unterschiedlichen Konstellationen. Echo ist im erst genannten Bild eine moderne Frau, die wie posierend in der Landschaft liegt. Ihr grünes, mit orangenen Tupfen versehenes Kleid verschmilzt mit dem Untergrund, die orangen Flecken finden sich im Waldhintergrund als mögliche Blütenstände wieder. Sie ist eine Art moderne Maya, die sich dem Betrachter erwartungsvoll zeigt. Narziss hingegen ist in „Storyboard_Er“ als nackte Figur nahe an einem Wasser liegend dargestellt. Der rechte Arm scheint geradezu auf der Wasseroberfläche zu liegen. Er wirkt seltsam leblos, so dass offen bleibt, ob er schläft oder ob seine Verwandlung in eine Narzisse bereits beginnt, da seine Beine tief in Gras liegen und von diesem teilweise verdeckt werden. Die exakt gleiche Haltung nimmt auch die weibliche, bekleidete Figur im 2010 entstandenen „Storyboard_Gigantin“ ein, die auf einer Art Pflanzenbett gelagert schläft, während im Hintergrund ein Wald mit Lichtflecken zu sehen ist. Es ist das erste Gemälde der Serie und nicht unmittelbar mit dem Zyklus in Verbindung zu bringen. Denkt man sich aber eine filmische Erzählstruktur, wie aufgrund der Titel und Formate auch intendiert ist, so könnte sie die Erzählerin oder Protagonistin sein, deren Träume im Folgenden bildlich wiedergegeben werden. Denn der Mythos kann auch als moderne Geschichte einer scheiternden Liebe einer Frau zu einem Mann und eines Mannes zu sich selbst verstanden werden. Dies wird in dem Gemälde „Storyboard_beide, verschwindend“ sichtbar, das eine junge Frau im roten Kleid in halb liegender, halb aufrechter Haltung zwischen blattartigen Strukturen zeigt. Bei genauer Betrachtung entdeckt man im Hintergrund die nackte Figur des Narziss in der bereits bekannten Haltung hinter einem Baumstamm liegend. Die Farbe ist in diesem Gemälde in kreisförmigen Flecken aufgetragen, so dass der Eindruck eines flirrenden, sich auflösenden Bildinhalts entsteht. Dieses Verschwinden ist die Metamorphose der mythologischen Figuren, die nicht einfach sterben, sondern eine Verwandlung erleben. Narziss wird im Tod zur gleichnamigen Blume, deren gelbe Farbe sich in den orangenen bzw. ockerfarbenen Flecken andeuten könnte. Echo hingegen verschmilzt im Tod mit einem Felsen und kann so den Schall reflektieren, so dass die orangenen Kreise auch Symbole dieses akustischen Phänomens sein könnten. Im Gemälde wirken die beiden Figuren ausschließlich auf sich selbst bezogen, den jeweils anderen nicht gewahr werdend.
Die Selbstbezogenheit, das Scheitern der Kommunikation ist es auch, die eine moderne Lesart der Bilder geradezu herausfordert. Die Auseinandersetzung oder Wahrnehmung des eigenen Ich hat heute ganz neue Formen erreicht, indem mediale Ich-Versionen eine Spiegelfunktion übernehmen. Bilder in der Öffentlichkeit, im Netz, in sozialen Medien lassen das eigene Ich zu einer hybriden Person werden und ein Spiel der Vieldeutigkeit bis zur Beliebigkeit zu. Dies stellt eine interessante Variation zur barocken Gesellschaft aus der Zeit des Nicolas Poussin dar, in der die Macht des Adels auf Prachtentfaltung beruhte. Diese zeigte sich in unterschiedlichen Inszenierungen und programmatischen Kunstwerken, bis hin zu ganzen Schloß- und Parkarchitekturen, die der symbolischen Gleichsetzung der Könige mit Götterfiguren dienten. In dieser Zeit malte Poussin, der ungern am Hof des französischen Königs weilte und sich lieber in Rom aufhielt, seine Version von “Narziss und Echo“. Er wählte dafür nicht die beliebte Szene wie Narziss sein Spiegelbild erblickt, sondern stellte sein Sterben mit der Verwandlung in eine Blume dar, während im Hintergrund Echo zu Stein wird. Damit betont er die Vergänglichkeit der Halbgötter, nicht deren Macht und Schönheit.
Diese Haltung klingt auch in der Darstellung des Mythos von Annette Wirtz an. Die Gemälde wirken trotz leuchtender Farben und idyllisch anmutender Natur melancholisch, denn die Figuren scheinen zwischen äußerer Pose und innerer Selbstverlorenheit ihr Dasein zu verträumen. Auch die Natur verliert ihren paradiesischen Nimbus und wird zum Träger melancholischer, weil unerfüllter Sehnsüchte. Ein Kontakt zwischen den Figuren ist nicht dargestellt und die ersehnte Vollendung des eigenen Ich im Du scheitert. Was jedoch nicht scheitert, ist die Malerei, die im Werkzyklus von Annette Wirtz die Aktualität des mythologischen Inhalts erneut sichtbar werden lässt. In ihr Storyboard von Narziss und Echo kann der Betrachtende eintauchen wie in die spiegelnde Oberfläche des Wassers und eine weitere Metamorphose des Themas erleben.
Julienne Franke, Kuratorin der Städtischen Galerie Lehrte